- Anita Oswald
- 28. März
Aktualisiert: 29. März
Der Bergsturz von Goldau, 02. September 1806
An einem windigen, aber trockenen Nachmittag treffen wir uns am Bahnhof eines Ortes, den es gar nicht gibt. Denn wie uns Erich Ketterer (unser Reiseführer für diesen Tag) schon bald erklärt, ist «Arth-Goldau» eine Eisenbahn-Erfindung. Die Haltestelle der Gotthardbahn fiel auf Goldauer Grund, dem bedeutenderen Arth war aber eine Nennung zugesagt worden. So heisst der Bahnhof Arth-Goldau, obwohl die Ortschaften eigenständig sind. Es gibt Arth, Oberarth und Goldau, die bis heute ihren eigenen Dorfcharakter leben und in liebevoller Neckerei die Nachbarschaft pflegen. Als Lokalhistoriker und Museumskurator ist Erich genau der Richtige, uns in die Eigenheiten der Region einzuweihen.
Mit der Eisenbahn beginnt auch unser Spaziergang durch das Dorf. Wir lernen, dass es früher eine Strassenbahn zwischen Arth und Goldau gab, eine Verbindung vom Zugersee bis zur Bahnstrecke zur Rigi. Die Überreste davon sind heute noch sichtbar, eingebettet ins Dorfbild.
Unsere Gruppe unterwegs Schienen über den Bach
Weiter geht es mit einem Exkurs über die Geschichte der Rigi, der alles überblickende Berg. Dass die Luzerner Seite zuerst erschlossen wurde, konnten die Schwyzer nicht auf sich sitzen lassen. 1875 wurde die Arth-Rigi-Bahn eröffnet. Der Tourismus-Boom auf die Rigi kam in Fahrt. Die Bahnstrecke wurde 1907 elektrifiziert und ist damit die erste elektrische Normalspur-Zahnradbahn der Welt. Das historische Hochperron wurde restauriert und 2017 wiedereröffnet. Auch wir sind vom Jugendstil-Charme des Gebäudes, hoch über den anderen Geleisen, fasziniert.
Hochperron der Rigi-Bahn über den Bahnhof
Mit einem Abstecher zur katholischen Kirche Herz Jesu tauchen wir schliesslich in die Geschichte des Bergsturzes ein. An ihrer Stelle stand schon vor dem Bergsturz eine Kapelle. Gegenüber wurde das erste neue Gebäude nach 1806 erstellt, ein Pfrundhaus mit Kapelle, Schulraum und der Wohnung des Kaplans. Gleich nebenan entstand das nächste wichtige Gebäude, die Wirtschaft Rössli. 1849 kam eine kleine Kirche dazu, die 1906 (genau 100 Jahre nach dem Bergsturz) durch die heutige Kirche ersetzt wurde. Die Kirche ist aus Nagelfluhblöcken gebaut, als Reminiszenz an die Geschichte des Ortes.
Der Rossberg über dem Dorf Pfrundhaus, im Hintergrund die Kirch Herz Jesu
Nun begeben wir uns in den Schutt, ein Naherholungsgebiet, in dem die Überreste des Bergsturzes unberührt sind. Die Natur hat sich die kahlen Steine zurückerobert, Bäume, Sträucher und Moose bedecken grosse Flächen. Doch die Brocken liegen noch so da, wie sie 1806 vom Rossberg gerollt sind. Die Steine aus Nagelfluh bilden in allen Grössen ein Labyrinth aus Höhlen, Schluchten und Gängen. Es juckt uns in den Füssen, zu klettern und Verstecken zu spielen. Aber hier wird uns zum ersten Mal das Ausmass der Zerstörung bewusst. Fast ganz Goldau und umliegende Gebiete wurden 20 bis 30 Meter hoch verschüttet. Alles Leben wurde ausradiert. Es war nur an der Oberfläche möglich, Gegenstände oder Personen zu retten. Alle anderen blieben unter den Steinen begraben. So wandeln wir heute über ihren Knochen. Kurz streift uns ein unheimliches, aber auch ehrfürchtiges Gefühl.
Ein wenig Klettern musste sein
Nach einer Stärkung im neuen Café des Natur- und Tierpark Goldau dürfen wir in die Erlebnishalle Goldauer Bergsturz. Der ganze Eingangsbereich des Parks wurde 2024 neu gebaut, und das bis dahin kleine und versteckte Bergbaumuseum fand einen prominenten Platz. Ein modernes Museumskonzept ermöglicht es, in die Geschichte des Bergsturzes einzutauchen. Auf der obersten Ebene blickt man dem Rotwild ins Gehege und in die Augen. Doch mit jeder weiteren Ebene kommt man dem Jahrhundert-Ereignis Bergsturz näher. In Zeitkapseln sind Artefakte ausgestellt, deren Geschichte mittels eines QR-Codes per Bild, Text und Audio erläutert wird. Dazwischen sind ältere Ausstellungsmodelle integriert, die einen topografischen Blick vorher und nachher erlauben. Auf der untersten Ebene liegt das Kino oder eher der Simulator. Man stellt sich dort auf Platten mit einem Haltegriff. Sobald der Film anfängt, versteht man auch wieso. Es läuft eine Animation in Echtzeit des Filmemachers und Visual Effects Artist Roman Kälin. Ausgehend von den heftigen Regenfällen vorab, erlebt man das Knacken und Reissen der Gesteinsmassen oben am Rossberg hautnah mit. Grollen und Rattern setzen sich fort und sobald die Steine in Bewegung geraten, bewegt sich auch die Bodenplatte. Mittendrin sieht man die Steine über Almen auf die Häuser zurasen. Und steht schliesslich neben dem Dorf, als es von den Massen begraben wird. In nur 3 Minuten, so lange dauerte der Bergsturz, wurden 457 Menschen getötet und 111 Wohnhäuser eliminiert. Geschätzt 40'000'000 Kubikmeter Geröll kamen vom Berg herunter. Tief beeindruckt verlassen wir den Simulator.
In einer Fragerunde erklärt uns Erich, warum der Rossberg damals abrutschte. Die geologische Erklärung sei hier simpel gehalten, aber grundsätzlich liegen zwischen den Schichten aus hartem Nagelfluh weiche Schichten aus Lehm. Man kann sich das wie eine Cremeschnitte vorstellen. Der lange andauernde Regen wusch den Lehm aus und dem Nagelfluh fehlte der Klebstoff, die Cremeschicht. Also rutschte der Nagelfluh ab und bewegte sich Richtung Dorf.
Die grosse Frage ist nun, wann rutscht der Berg wieder? Heute steht der Rossberg unter dauernder Beobachtung und wird regelmässig vermessen. 2005 gab es die letzte brenzlige Situation, als wieder längere Regenfälle vorkamen, Murgänge gingen ab. Doch die Dörfer und der Kanton Schwyz sind gut vorbereitet, mit Katastrophenplänen, geschulten Feuerwehren und einem Evakuationskonzept. Dadurch kam es seit 1806 nie wieder zu Todesfällen aufgrund des Rossberges.
Den Abschluss finden wir im Archiv des Museums, in dem weitere Objekte auf ihre Ausstellung warten. Beeindruckt vom umfassenden Wissen von Erich, bedanken wir uns für die lebendige und hochinteressante Führung.
Eindrücke aus dem Museum / Erich erklärt uns, wie stark das Dorf nach dem Bergsturz gewachsen ist
Den Abend beschliessen wir beim gemeinsamen Essen im Dorf. Der Tag und die Eindrücke werden diskutiert und ausgetauscht. Wie immer führen die Gespräche zu weiteren interessanten Themen, und wir könnten die halbe Nacht debattieren. Erneut ein erfolgreicher und spannender Anlass unseres Vereins.
 Wir danken unserem Mitglied Karin Stalder für die Organisation und die innerschweizerische Gastfreundschaft.
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Mehr zum Bergsturz: Erlebnishalle - Goldauer BergsturzÂ
Teaser zum Bergsturz-Film: Goldauer Bergsturz - Teaser
Einen Einblick in die Geschichte der Rigi-Bahn bietet die Webseite der Bahn: Bahngeschichte | Rigi
(Bilder: Anita Oswald privat)